„Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du“ von Katja Wachter

Ein Theaterstück als Bewegungsprojekt

„Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du“ von Felicia Zeller in einer Inszenierung und Choreografie von Katja Wachter

In aller direkten Einfachheit gelingt es Katja Wachter, Herz und Intellekt stringent in einer bis zum Schluss wachsenden Diskrepanz zu verflechten.

München, 18/02/2024

Wohngemeinschaften sind eine Herausforderung für sich – vom Zeitschriftenabonnement bis hin zu Putzplan oder Badbenutzungsregeln. Dass man in einer WG selten alleine ist, kann von großem Vorteil sein. Im sozialen Gefüge der Mitbewohner*innen lässt sich schnell Anschluss zu anderen Menschen finden. Zum Reden ist quasi immer jemand da. Doch was, wenn die gut austarierte Balance von Gemeinsamkeit und gegenseitigem Vertrauen plötzlich aus dem Gleichgewicht kippt?

Genau das passiert in Felicia Zellers 2016 am Staatstheater Saarbrücken uraufgeführtem Stück mit dem ellenlangen Titel „Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du“. Hintergründig-witzig thematisiert die 1970 geborene Dramatikerin darin den Verlust von Privatsphäre im Zug digitaler Kommunikation. Angeprangert wird der arglos zu bequeme Umgang mit dem Internet respektive den Bedrohungen der Netzgesellschaft. Dynamiken von Macht und Manipulation, propagandistische Methoden sowie das Belohnen oder Abstrafen führen innerhalb einer miteinander lebenden Gruppe schleichend und letztlich alternativlos in eine Abhängigkeit und zu gegenseitiger Kontrolle. 

Wie famos sich dieses Schauspiel – auch wegen seiner weiterhin mustergültigen Brisanz – als Vehikel für ein Bewegungsprojekt eignet, zeigt sich aktuell bei einer kurzweilig-eindringlichen Aufführungsserie der Bayerischen Theaterakademie August Everding im Akademietheater. Und das körperlich wunderbar intensiv. Zellers sprachliche Bravour, die an das Fragmentarische knappgehaltener Posts erinnert, durch die sich User aufgrund fremdgesteuerter Datensicherung jederzeit vor- und zurückscrollen können, wird zwar nur stark eingestrichen geboten, ein Manko ist das aber nicht. Als Zuschauer*in lernt man stattdessen einen Haufen vieler, beeindruckender, junger Talente kennen. Allein schon ihr virtuoses Zusammenspiel in einer nie abreißenden Verschränkung von Wort und Bewegung lohnt den Besuch.

Mit Elias Khani-AlemoutiOlivia OsburgLuca Kronast-ReichertLevin SteinRebekka Ziemer, den Wienern Samuel Spieß und Sonja ReisenbichlerKateřina Humhalová (Erasmusgaststudentin aus Prag) sowie dem ukrainischen Gaststudenten Volodymyr Melnykov aus Kyiv (Chapeau fürs nahezu perfekte Bühnendeutsch!) hat Schauspiel-Studiengangsleiter Jochen Schölch derzeit einen breit aufgestellten und richtig guten Jahrgang am Start. Scheinbar mühelos steigern sich alle neun – noch vor der Halbzeit ihres vierjährigen Studiums – in die zunehmende Deformiertheit ihrer Figuren hinein. Annahmen, Verdächtigungen, Anschuldigungen oder Beschwichtigungen werfen sie sich wie Spielbälle zu, die es hier bereitwillig aufzufangen, dort abweisend abprallen zu lassen gilt.

Nach und nach graben sich sichtbar Veränderungen in ihr körperliches Gebaren und die akustisch abwechslungsreich von Manuel Seum (Absolvent des Studiengangs Filmmusik) gesteuerten Ensemblesequenzen dieser insgesamt doch recht großen WG ein. Unter den Bewohnern kristallisieren sich die Kranke, die geschäftig Eilige, der stets Positive und ein ewig Misstrauischer heraus. Auch ein Liebespaar lernt man näher kennen. Es wird – am Boden die Beine wild um den Partner geschlungen – also im intimsten Moment vom Hereinplatzen des dubiosen neuen Mitbewohners überrascht. Spot an! Plötzlich schmust man im hellen Lichtschein. Aufregung ist vorprogrammiert. Die Liebe bekommt einen Riss. Am Ende können beide die zärtlichen Berührungen des anderen nicht mehr aushalten.

Die Inszenierung und tänzerisch immer wieder in die Vollen gehende Choreografie des gemeinsam erarbeiteten Projekts lag in der Verantwortung von Katja Wachter. In aller direkten Einfachheit gelingt es ihr, Herz und Intellekt stringent in einer bis zum Schluss wachsenden Diskrepanz zu verflechten. Das emotionale Kopfkino vermag sie mal solistisch impulsiv, mal einfühlsam im Duett stiller Zweisamkeit oder in einer von Hebungen gespickten Ensemble-Nummer, die fast ballettös daherkommt, sehr anschaulich ins rein Performative zu übertragen. 

„Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du“ steckt voller Argumente. Der Plot – und ebenso die Choreografie – entwickelt sich subtil aus unterschiedlichen Pros und Contras, die unter Wachters Regie in einem Setting aus lauter mobilen Elementen jede der neun Persönlichkeiten auf ihre Weise umtreiben. Dass Wachter zudem eine prima szenische Lösung für die Omnipräsenz des im Stücktitel erwähnten Katers gefunden hat, passt zum Biss des Abends wie seiner fesselnden Akteure. 

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