„Silent Screen“ von Sol León und Paul Lightfoot

Standing Ovations

Sol Leóns und Paul Lightfoots „Schmetterling“ und „Silent Screen“ beim Bayerischen Staatsballett

Mehr als nur Schwarz-Weiß bei der Ballettfestwoche 2023 beim Bayerischen Staatsballett

München, 03/04/2023

Die Vielfalt der Werke der laufenden Spielzeit – „Der Sommernachtstraum“, die Matinée der Heinz-Bosl-Stiftung, „Romeo und Julia“, „Passagen“, „Cinderella“ sowie „Tschaikowski-Ouvertüren“ – ist durch zwei bezaubernde neue Kreationen erweitert.

Als Auftakt der diesjährigen Ballettfestwoche strahlt die München-Premiere „Der Schmetterling“ von Sol León und Paul Lightfoot, die gemeinsam mehr als 60 Uraufführungen für das Nederlands Dans Theater (NDT) kreiert haben. Das Choreograf*innen-Duo hat sich weit über die Niederlande hinaus einen Namen gemacht und wurde mit namhaften Preisen wie „Spanish National Dance Award“ oder „Herald Archangel“ ausgezeichnet.

Der zweiteilige Ballettabend zeigt zum einen die titelgebende Choreografie „Schmetterling“ sowie „Silent Screen“. Dass beide Titel des Abends und der Name ihrer gemeinsamen Tochter Saura mit dem Buchstaben S beginnen, ist kein Zufall.

Beide Werke wurden für das NDT choreografiert und hatten ihre Uraufführung im Jahr 2010 („Schmetterling“) und 2005 („Silent Screen“). Das Choreografen-Duo gibt mit diesem Abend sein Hausdebüt beim Bayerischen Staatsballett. Im zweiteiligen Ballettabend – stilistisch von zeitgenössisch bis klassisch – geht es um Fragen der menschlichen Existenz – zwischen Lebenslust und Todesbewusstsein. Während „Silent Screen“, inspiriert von Stummfilmen, den Anfang des Abends bildet, thematisiert „Schmetterling“ im zweiten Teil die Lebenslust, damit auch die Liebe in all ihren Facetten.

Facettenreichtum ist das Schlüsselwort des Abends. Trotz der Farbgebung schwarz und weiß – von Ausnahmen abgesehen – kann sich der Betrachtende ein differenziertes Bild davon machen, was Existenz bedeutet. Viel mehr noch, er wird in den Bann des Denkens und Fühlens (hinein)gezogen, dank der schlüssigen wie einfallsreichen Choreografie und der überwältigenden zugleich nuancierten Ausdrucksstärke wie sie Eline Larroy, Severin Brunhuber und Andrea Marino in „Silent Screen“ an den Tag legen und durch ihre Tiefe in der Interpretation ein ganzes Album menschlicher Gefühle offenbaren.

Als Publikum führt uns der Weg an das rauschende Meer, wo Filmszene auf einer Panorama-Leinwand und Tanz auf der Bühne zu einer künstlerischen Einheit verschmelzen. Ein Mann und eine Frau führen den tänzerischen Dialog an und geleiten das Publikum durch das „geheime Tagebuch“, wie Paul Lightfoot erklärt. Es ist eine Zeitreise, auch eine autobiografische Begegnung mit dem Künstlerpaar, an der die Zuschauer*innen teilhaben. Vor einer schwarz-weißen Fotografie erscheint die rotgekleidete Tochter Saura, während der Aufnahmen im Alter von sechs Jahren. Sie steht für die „Schönheit des Unschuldigen“, wie die Mutter darlegt. Das Publikum ist Teil dieser Reise in die Zukunft – und zurück – ad fontes. Parallel zur Schwarz-Weiß-Filmsequenz öffnen sich neue Perspektiven, wenn sich zum Beispiel das Auge des Kindes zum Wasserstrudel verwandelt, der Tod als überdimensionale Gestalt erscheint und die Reise des Menschseins schließlich im Universum endet. In „Silent Screen“ wird nicht nur die Abfolge der einzelnen Lebensstationen vor Augen geführt. Das Werk lebt von seiner Gestik, Mimik, seiner schauspielerischen Kraft und seiner interpretatorischen Tiefe, die das Trio Larroy/ Brunhuber/ Marino in der Gestaltung ihrer Rollen vollständig auskostet. Dass nur eine ausgefeilte Tanztechnik, ein intensiver Probenprozess, diese Hingabe in die Charaktere und damit eine bewegende Tanzsprache ermöglicht, die das Publikum am diesem Abend elektrisiert, ist regelrecht greifbar.

Ein weiteres Ergebnis dieser intensiven wie fruchtbaren Probenarbeit findet seinen Niederschlag in der farbenreichen Choreografie „Schmetterling“ – trotz der in schwarz-weiß gehaltenen Aufführung auf der Bühne. Wer mit diesem Titel „die Leichtigkeit des Seins“ mit bunten Farben in Verbindung bringt, wird hier eines Anderen belehrt.

„Schmetterling“ steht für die „Flüchtigkeit einer Aufführung und damit auch für das absurde Kabarett des Lebens“, so Paul Lightfoot. Schmetterling bedeutet zum einen auch das blühende Leben, die Liebe, dessen unterschiedlichste Ausprägungen in Form von Poesie auf dieser Bühne zur Blüte kommen, mal triefend kitschig, mal absurd, mal sarkastisch, mal aufrichtig, mal kokett oder einfach nur romantisch. Zum Anderen – und da sind wir wieder beim Bild des Schmetterlings – symbolisiert er die Vergänglichkeit, das Älterwerden: So wie hier, wo die alte Dame an der Hand ihres Sohnes tanzt und in eine andere Welt hinübergleitet. Lauretta Summerscales und Robin Strona mit dem Bayerischen Staatsballett haben subtil mit Bravour diese Herausforderung gemeistert. Standing Ovations für den Abend waren der Lohn. „Wenn ich merke, dass Künstler hungrig sind, gebe ich alles“, formuliert Sol León. Die Tänzer*innen gaben alles.

 

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